vom Sänger zum Chef

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Ganz besonders das Singen hat großen Einfluss auf die eigene Persönlichkeitsentwicklung. Ein beeindruckendes Beispiel möchte ich hier erzählen: 

Eines Tages meldete sich ein junger Mann, Stefan, der Gesangsunterricht wollte. Wir vereinbarten einen Schnuppertermin. Er hatte keinerlei Vorkenntnisse, wohl aber eine sehr angenehme, tiefe Männerstimme. Ich mag das.

Stefan war 43 Jahre und ein sympathischer und geselliger Mensch. Er war ein Optimist, immer gut gelaunt  und sorglos. So schien es zu anfangs. Aber der Reihe nach.

Im Gesangsunterricht war Stefan konzentriert aber es schien mir, als ob er die Notwendigkeit der Gesangstechniken bezweifelte. Er bemühte sich nur mäßig sie umzusetzen. Seine Stimme war nicht präsent. Er war am Mikrofon zurückhaltend, fast schüchtern. Er sang kaum einen Titel konzentriert bis ans Ende und verfiel oft in private Erzählungen – eine Zeitschindermethode. Er musste in dieser Zeit sehr oft über seinen Schatten springen und sich überwinden. Ganz langsam wurde sein Gesang etwas selbstbewusster und präsenter. Über seine schwindende Angst vor dem Mikrofon freute er sich definitiv mehr als über seine Stimme. Ich staunte. ok. 

Nach ca. 1 Jahr wurden plötzlich Stunden abgesagt. Er kam immer seltener zum Unterricht. Oft hatte er ihn angeblich einfach vergessen. Es gab keinen speziellen Grund. 3 Monate vor Weihnachten stellte ich dann die Gretchenfrage. Sollen wir weitermachen oder den Unterricht beenden? Schließlich hatte ich Anfragen von InteressentInnen und eine längere Warteliste. 

Da erzählte mir Stefan, dass er als Sohn eines Fabrikanten aktuell sehr viel Diskussionen mit seinem alten Vater habe. Dieser wolle partout den Chefsessel nicht übergeben. Er traue ihm die Führung des Unternehmens nicht zu. Der Streit sei nun auf seinem Höhepunkt und Stefan habe ihm angekündigt, das Unternehmen verlassen zu wollen. Er organisiere aktuelle eine letzte große Weihnachtsfeier für die Belegschaft und wolle danach seinen Austritt verkünden. Ich war geschockt. Soetwas hatte ich nicht erwartet. Wir diskutierten bestimmt 2 Stunden lang. Irgendwann hatten wir die Idee: Warum nicht die Bühne nutzen? Daraus könnte man doch etwas machen. 

Wir beschlossen eine Rede einzustudieren. Wir arbeiteten akribisch an den Formulierungen und Stefan sammelte Daten zum Unternehmen, Geschichten zu langjährigen Mitarbeitern und Geschehnissen in Krisen- und Hochzeiten. Wir stellten die Daten chronologisch einem Motto folgend zusammen. Zitate, historische Ereignisse und Parallelen in anderen Unternehmen wurden hinzugefügt. Das war eine Meisterleistung der Recherche. Auch kleine “Lacher” und lustige Vergleiche wurden eingearbeitet. Am Ende hatten wir eine schwungvolle Rede, die punktgenau auf das Unternehmen ausgerichtet war. Stefan war in diesen 3 Monaten unglaublich motiviert. 

Dann kam der zweite Teil. Wir bauten in meinem Studio ein kleines Podium mit Mikrofon auf und er musste zu jeder Stunde im ungeliebten Anzug antreten und seine Rede einstudieren. Jede Stunde war eine Generalprobe. Wieder und wieder.

Er musste eine 45-minütige Rede auswendig lernen. Er hatte viel mehr zu lernen als nur die Sätze: er lernte langsam und melodisch sprechen, die Stimme an den richtigen Stellen anheben und zurück zu nehmen, rhetorische Fragen stellen, Kunstpausen einsetzen und die Stille ertragen, sich beim Sprechen Zeit lassen. Die allen bekannten “ähs” mussten weg. Sein schwäbischer Akzent sollte bleiben um die Nähe zu seinen Mitarbeitern zu demonstrieren. Jede Stunde wurde mit Recording-Technik aufgezeichnet. Er lernte Blickkontakt halten und seine Hände und Mimik zu kontrollieren. 

Er steigerte sich von Woche zu Woche. Und er hatte Freude an seiner Entwicklung. Er verlor nach und nach seine Angst. Die Stimme wurde fest, seine Körperhaltung blieb locker. Stefan war in seinem Element. Er hatte wirklich Spaß an diesem Unterricht. 

Dann kam der große Abend.

Stefan berichtete: er sei sehr nervös gewesen. In der Halle war eine kleine Bühne für seine Rede aufgebaut worden. Ein kleiner Scheinwerfer strahlte ihn an, was ihn noch nervöser machte. Sein Anzug schien ihm zu eng zu sein. Er schwitzte. 

Er betrat das kleine Podium, seine Frau nickte ihm vom Zuschauerraum aus zu, die Belegschaft wurde still und schaute ihn an. Sein Vater brach sein Gespräch ab und drehte sich verwundert zur Bühne um. Stefan fasste sich ein Herz. Er legte eine Hand um das Mikrofon und steckte die andere in die Hosentasche, so wie wir das geübt hatten. Dann ein paar Schritte nach vorne,  ein langer Blick von links nach recht dich den Saal. Er holte Luft und begann zu sprechen. Zu anfangs war er steif und unsicher. Die Stimme war dünner. Er war gestresst. Dann kam der erste kleine Lacher in seiner Rede. Die Belegschaft applaudierte höflich. Dann, einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte er ins Mikrofon: “Leute, ich bin hier echt nervös. Das ist viel schwieriger als ich dachte. Jetzt steh ich als Fabrikantensohn mal auf dem Prüfstand und muss zeigen, was ich kann. Der eine oder andere von Euch kennt vielleicht das Gefühl”. Die Belegschaft johlte und applaudierte begeistert. Das Eis war gebrochen. Ja, genau, jeder kannte dieses Gefühl.

Stefan wurde mit jeder Minute sicherer. Er genoß die ihm entgegengebrachte  Aufmerksamkeit. Die eingebauten Geschichten verfehlten ihre Wirkung nicht. Mal war es in der Halle still, mal fröhlich, mal ernster und mal ausgelassener. Seine Unsicherheit an manchen Stellen blieb nicht unbemerkt, doch die jungenhafte Art damit umzugehen, brachte ihm viel Sympathie ein. Stefan war angekommen. Er spielte mit dem Publikum. Er hatte die Belegschaft hinter sich und glänzte in seiner Rolle als Speaker. Er fühlte sich als echte Führungskraft. 

Als er seine Rede schloss, erklang frenetischer, langanhaltender Applaus. Niemand hatte ihn bisher so selbstsicher und glänzend gesehen. Er hatte es geschafft. Die Belegschaft feierte ihn. Das würde ihm keiner mehr nehmen. Die Rede war ein voller Erfolg. Er hatte überzeugt und gezeigt, was in ihm steckt. Er war erleichtert und glücklich. Gegen späterer Stunde kam auch sein Vater zu ihm und schlug ihm stolz auf die Schulter: “Jonger, des hätt i dir gar net zutraut!”

Stefan ist heute Geschäftsführer und hat seinen Platz im Chefsessel seines Vaters eingenommen. Über die Disziplin des “Singens” hat er seine Stimme und, in diesem Fall viel  wichtiger, seine Persönlichkeit entwickelt. Er konnte an einem Abend fast 200 Menschen inclusive seinem Vater von sich überzeugen. 

Ich freue mich jedes Mal, wenn ich ihn heute irgendwo bei einer Sportveranstaltung sehe. Er hat das Unternehmen modernisiert und ist dabei ein optimistischer und sympathischer Kerl geblieben.