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Die Augen - das Tor zur Seele
Eines Tages stellte sich eine 24-jährige Studentin vor, die beinahe feindselig war. Ich war mir auch nicht schlüssig, ob ich sie annehmen sollte. Sie schien schwierig zu sein. Sie korrigierte von Anfang an meine Formulierungen, wann immer sie konnte. Ich konnte nichts sagen, was auf Anhieb ihre Zustimmung fand. Es war ihr offensichtlich wichtig, mir klar zu machen, dass ich nicht immer Recht habe. Das wiederum war Begründung genug nicht aus ihrer Comfortzone kommen zu müssen. Für mich fühlte sich das ein wenig wie Tauziehen an.
Sie sang mehr oder weniger immer dasselbe. Manchmal fühlte ich mich fast provoziert, wenn sie jeden Songvorschlag von mir kategorisch ablehnte. Sie war nicht bereit, sich auf irgendetwas einzulassen. Die Überlegung lag auf der Hand, den Unterricht abzubrechen. Es gibt ja auch Studentinnen, die gerne etwas lernen. Irgendwann erkannte ich, dass dieses Mädel irgendwie versteinert war. Sie wollte sich bewegen, sie konnte aber nicht. Ich entschloss meine Taktik zu ändern.
Ich nahm sie an die Hand und wir sangen gemeinsam. Wir sangen und spielten Titel, bei welchen man sich abstimmen musste. Viele Breaks und Rhythmusänderungen und taktunabhängige Einsätze waren die Herausforderung. Ich stellt mich beim Spielen direkt neben sie. Das machte sie nervös. Ich forderte sie auf, mir beim singen in die Augen zu sehen, damit wir uns nonverbal zum Songende abstimmen können. Das viel ihr sehr schwer. Sie konnte mich nicht direkt ansehen. Ich ließ aber nicht locker und verlangte, dass sie ihre Vorbehalte aufgibt, da wir sonst nicht synchron spielen können.
Irgendwann brach das Eis. Sie gab sich wirklich Mühe, hielt Blickkontakt und befolgte die Anweisungen und verlor dann die Fassung. Sie weinte leise und erzählte mir, dass sie als Kind in ihrer Familie über Jahre missbraucht worden war. Sie hasste jeden Blickkontakt und auch jede körperliche Nähe. Sie fühlte sich wie auf einer Eisscholle. Sie wollte dort weg, könnte aber nicht schwimmen. Ich war entsetzt. Welch ein schreckliches Schicksal dieser junge Mensch ertragen hatte. Wir haben lange geredet und es war ein sehr trauriges Gespräch. Aber jetzt war es endlich raus. Wir überlegten uns die nächsten Schritte. Sie brauchte einen Profi. Das war klar.
Den Gesangsunterricht hat sie kurz darauf gekündigt. Sie nimmt bis heute Therapiestunden. Sie hat zwischenzeitlich den Zugang zu sich als Mensch, ihren Gefühlen und ihrer Unschuld wieder gefunden. Mit ihrer Familie hat sie endgültig gebrochen. Wir schreiben uns seit längerem nicht mehr. Sie möchte alles hinter sich lassen, was ich gut verstehen kann. Es geht ihr heute gut.
